"Die Legende von Satyavan und Savitri wird im Mahabharata erzählt als Gleichnis von der ehelichen Liebe, die den Tod besiegt. Satyavan ist die Seele, die die göttliche Wahrheit des Seins, herabgestiegen in die Gewalt von Tod und Unwissenheit, in sich trägt. Savitri ist das göttliche Wort, die Tochter der Sonne, die Gottheit der Höchsten Wahrheit, die herabkommt und geboren wurde für das Heil."
Sri Aurobindo
"Es macht nichts, wenn Du Savitri nicht verstehst. Aber lies es immer. Du wirst sehen, daß jedesmal etwas Neues hinzukommt und klar wird (...) immer wird etwas Deine Erfahrung bereichern. (...) Aber lies es nicht, wie Du andere Bücher liest oder Zeitungen. Du mußt lesen mit einem leeren Kopf, einem blanken und wachen Geist. Ohne, daß dort andere Gedanken sind, mußt Du Dich sehr konzentrieren; verbleibe leer, ruhig und offen."
Die Mutter
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Einführung in Sri Aurobindos Epos
von Wilfried Huchzermeyer, Edition Sawitri
Das indische Epos Mahabharata ist eine der größten und bedeutendsten Schöpfungen der Weltliteratur. In einigen Ausgaben umfaßt es bis zu 100.000 Verse, worin neben der eigentlichen Handlung zahlreiche kleine Episoden geschildert werden. Zu ihnen zählt auch die Geschichte von Savitri und Satyavan.
Savitri wurde als Tochter des Königs Ashvapati geboren und hatte seit ihrer Kindheit eine so starke Ausstrahlung, daß kein Prinz es auch nur wagte, um ihre Hand anzuhalten. So begab sie sich eines Tages auf Weisung ihres Vaters auf eine lange Reise, um selbst einen Bräutigam zu finden. Nach zwei Jahren Suche begegnete sie Satyavan, dem Sohn eines blinden Königs, der aus seinem eigenen Reich vertrieben worden war, und entschied sich für ihn.
Als Savitri nach Hause zurückkehrte und im Palast von ihrer Wahl berichtete, war gerade der Götterbote Narada anwesend. Aufgrund seiner inneren Schau konnte er sehen, daß Satyavan in genau einem Jahr sterben würde, und riet deshalb von einer Hochzeit ab. Doch Savitri blieb unbeirrt und heiratete ohne Zögern Satyavan.
Als ein Jahr vorüber gegangen war, erfüllte sich das prophezeite Schicksal: Yama, der Todesgott, packte Satyavan und nahm ihn mit sich in die jenseitigen Welten. Savitri war fest entschlossen, bei ihrem Gatten zu bleiben, und folgte Yama bis in Regionen, die eigentlich kein Sterblicher betreten kann. Schließlich gelang es ihr, den Todesgott in ein Gespräch zu verwickeln. Yama war beeindruckt von der unerschütterlichen Zähigkeit, mit der Savitri um das Leben ihres Gatten kämpfte, und gab schließlich Satyavans Seele wieder frei für ein weiteres Leben auf Erden.
Sri Aurobindo griff diese Legende aus dem Mahabharata auf und gestaltete nach ihr sein spirituelles Epos Savitri, verfaßt in 24 000 Versen. Dies ist sein wichtigstes Werk, an dem er fünf Jahrzehnte lang unermüdlich arbeitete. Das ursprüngliche Motiv einer todesmutigen ehelichen Treue wird in seinem Epos umgestaltet zum Symbol eines tiefgreifenden spirituellen Geschehens: Sri Aurobindo beschreibt, wie Savitri den Kampf mit den Kräften der Unwissenheit und des Todes auf Erden aufnimmt, um eine neue Ära des Lichts und der Wahrheit für die Menschheit einzuleiten. Denn Sri Aurobindo glaubte, daß die Evolution ein ständiger Entwicklungsprozeß ist und nicht an irgendeinem Punkt innehält. Speziell auf der Bewußtseinsebene ist der Mensch gefordert, weiter zu wachsen und neue Formen schöpferischer Entfaltung in allen Bereichen des Lebens zu erschließen.
Savitri ist ein Werk, in dem Sri Aurobindo eine spirituelle Odyssee darstellt, ein Abenteuer des Bewußtseins, in dessen Verlauf seine Heldin - als Inkarnation der Göttlichen Mutter des Universums - in unermüdlichem Streben innere Welten erforscht, Widerstände ausräumt und neue Pfade erarbeitet, um unsere Erde vom Gesetz der Dunkelheit und des Leids zu befreien.
Doch viele andere Betrachtungen fließen in dieses Hauptthema ein: der Ursprung des Menschen und die Entstehung des Universums, die Geburt der Götter, das Wirken gottfeindlicher Kräfte, Mythologie, Wissenschaft und Philosophie ebenso wie detaillierte Schilderungen verschiedener Yoga-Wege - und all dies verfaßt auf der Grundlage eigener innerer Schau und Erfahrung.
Sri Aurobindo hat sein episches Gedicht in 12 Bücher unterteilt. Diese tragen Titel wie z.B. Das Buch von den Anfängen, Das Buch von der Göttlichen Mutter oder Das Buch vom Yoga. Die Sprache ist die des Blankverses ohne Reim, jedoch mit einem spezifischen Rhythmus. Wir zitieren im folgenden als Textprobe eine Passage zunächst im englischen Original und dann in deutscher Übersetzung. In diesem Abschnitt aus dem Buch von der Liebe wird die Szenerie geschildert, in der Savitri ihren Geliebten Satyavan trifft, draußen in der freien Natur mit ihrer paradiesischen Schönheit. Gleichzeitig finden wir auch das Bild der innigen Verbundenheit von Himmel und Erde, welches ein wichtiges Motiv in Sri Aurobindos ganzheitlicher Vision der Schöpfung ist:
Below them crouched a dream of emerald woods
And gleaming borders solitary as sleep:
Pale waters ran like glimmering threads of pearl.
...
The white crane stood, a viviv motionsless streak,
Peacock and parrot jewelled soil and tree,
The dove's soft moan enriched the enamoured air
And fire-winged wild-drakes swam in silvery pools.
Earth couched alone with her great lover Heaven,
Uncovered to her consort's azure eye.
In a luxurious ecstasy of joy
She squandered the love-music of her notes,
Wasting the passionate pattern of her blooms
And festival riot of her scents and hues.
* * * * *
Unter ihnen kauerten Wälder wie ein Traum von Smaragd
Und schimmernde Ufer einsam wie Schlaf:
Gewässer glitten gleich Perlenschnüren dahin.
...
Der weiße Kranich stand da wie ein lebendiger Streif,
Papagei und Pfau schmückten Baum und Boden,
Wildenten mit flammenden Schwingen schwammen auf Silberteichen,
Und Taubengurren füllte verliebte Luft.
Beim großen Liebhaber Himmel lag die Erde,
Entblößt dem azurnen Auge ihres Gemahls.
In überschwenglicher Glücksekstase
Verschwendete sie der Liebesnoten Klänge,
Vergeudete Blütenmuster der Leidenschaft
Und festliche Fülle von Farbe und Duft.
Wir greifen noch einmal eine einzelne Zeile heraus, um den Rhythmus der Sprache zu würdigen, ihre Schönheit und mantrische Kraft:
And fire-winged wild-drakes swam in silvery pools
Wildenten mit flammenden Schwingen schwammen auf Silberteichen.
An dieser Stelle können wir erwähnen, daß die Literatur-Nobelpreisträgerinnen Gabriela Mistral und Pearl S. Buck Sri Aurobindo 1950 für die große Literatur-Auszeichnung in Stockholm vorschlugen, allerdings in Verbindung mit anderen bedeutenden Werken, da Savitri noch nicht erschienen war. Die beiden Schriftstellerinnen fanden kein Gehör, aber wahrscheinlich suchte Sri Aurobindo in diesem letzten Jahr seines Lebens auf Erden auch eher die Stille einer letzten Vertiefung in seine Arbeit als den großen Paukenschlag einer öffentlichen Anerkennung.
Eine Begegnung mit seinem großen Epos Savitri ist eine Begegnung mit Sri Aurobindo selbst, mit seinem Yoga und seiner wertvollsten dichterischen Schöpfung. Jede Zeile des Gedichts - so sagte er einmal - trägt eine verborgene Bedeutung in sich.
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Literatur (Auswahl):
Savitri (engl. Ausg.), 818 S., Sri Aurobindo Ashram
Savitri (vollst. dt. Übers. v. Heinz Kappes), 743 S., Verlag Hinder + Deelmann
Sawitri (vollst. dt. Übers. v. Peter Steiger), 680 S., Sri Aurobindo Ashram
Mantrische Dichtung und Einführung in Sawitri, 241 S., Sri Aurobindo Ashram
Savitri - Sri Aurobindos Meisterepos - G. Bhattacharjee. 24 S., Sri Aurobindo Buchhandel
Zwölf Jahre mit Sri Aurobindo - Nirodbaran. (Enthält eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte von Savitri). 207 S., Edition Sawitri
Titel des Sri Aurobindo Ashrams sind bei der Edition Sawitri und anderen Vertriebsstellen erhältlich.
Wilfried Huchzermeyer (Ph.D.), edition sawitri in Karlsruhe.
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